Der Golem
137. Veranstaltung der Humboldt-Gesellschaft am 18.03.02 von
Alexander Wöll
Der Golem.
Kommt der erste künstliche Mensch und Roboter aus Prag?
von Alexander Wöll
in: Marek Nekula; Walter Koschmal; Joachim Rogall (Hg.):
Deutsche und Tschechen. Geschichte - Kultur - Politik.
München (Beck) 2001, S. 235-245.
Der Name "Golem" findet sich bereits im Alten
Testament (Psalm 139, 16) und bezeichnet im Hebräischen eine "noch
ungeformte Masse", was Martin Luther mit dem Wort "unbereitet"
übersetzte. In Bezug auf diesen einen Beleg wurde in der talmudischen
Aggadah, der Sammlung jüdischer Geschichten und Legenden, golem
als etwas Ungeformtes und Unvollendetes definiert. In den talmudischen
Kommentaren ist mit dem Wort auch ein "Embryo" gemeint. Der Golem steht
in Konkurrenz zu Adam. Adama bezeichnet auf hebräisch "Erde",
also ein von der Erde genommenes Wesen, dem durch Gottes Hauch Leben und
Sprache verliehen wurde. Im Gegensatz dazu meint golem seit dem
12. Jahrhundert einen stummen, minderwertigen Menschen, der "ohne
Zeugungskraft und Trieb zum Weibe" - allein mit Hilfe eines
sprachmagischen Rituals - künstlich aus einer noch unberührten
Elementar-Erde, die vor aller organischen Schöpfung vorhanden ist,
erschaffen wird. Als ungefährlicher Automatenmensch in einer
arabisch-antiken Erzähltradition ist der Golem ein dienender Knecht und
eine Art geistloser Homunculus, der im Gegensatz zum späteren
Frankenstein nicht durch naturwissenschaftliche, sondern durch
religiös-rituelle Kräfte belebt wird.
Das zusätzliche Zauberlehrlings-Motiv von der
Bedrohung für seinen Schöpfer hat sich in polnischen Versionen der alten
Sage entwickelt und ist erstmals in einem Brief belegt, den der
christliche Autor Christoph Arnold 1674 schrieb. Die polnischen Juden
erschaffen diesem Bericht zufolge einen Golem, indem sie Shem ha-Mephorasch,
also den heiligsten Namen Gottes, über der toten Materie im Gebet
sprechen. Das belebte Wesen wächst danach von Tag zu Tag. Listig
befiehlt Rabbi Elija Ba'al Schem von Chelm (Cholm) dem Wesen, das er
schließlich durch die bedrohliche Größe kaum mehr beherrschen kann,
seine Schuhe auszuziehen. Dabei entfernt er das Aleph, den ersten
Buchstaben des hebräischen Alphabets, auf der Stirn des Golem. Das führt
allerdings dazu, daß der Rabbi unter der toten zusammenstürzenden
Lehmmasse begraben wird. Diese Version findet sich auch in Otto Knoops
Sagen und Erzählungen aus der Provinz Posen (1893) und in Juda
Bergmanns Legenden der Juden (1919).
Von der polnischen Volkssage aus geht der Stoff in
die Belletristik über. 1808 wird durch den Artikel Entstehung der
Verlagspoesie von Jakob Grimm die Legende von der Erschaffung des
Golem durch richtig kombinierte Buchstaben zur Metapher für die
"Wahrheit der rechten Worte" der Volkspoesie im Verhältnis zu den
"leeren Worten" der Kunstpoesie und den "toten Buchstaben" der
Geschichtsschreibung. Der Text wurde in Achim von Arnims Zeitung für
Einsiedler, dem wichtigsten Organ der Heidelberger Romantik, publiziert.
Jakob Grimm, Achim von Arnim (Isabella von Aegypten; 1812),
Clemens Brentano (Erklärung der sogenannten Golem in der Rabbinischen
Kabbala; 1814) und sogar noch später Gottfried Keller (Ein
schuldlos Unwahrer; 1882) geht es in ihren Allegorisierungen des
Golem-Mythos um die sprachmagische Verklärung des Wortes zur göttlichen
Poesie. Bei Arnim wird zudem erstmals der Golem nach dem Abbild eines
bestimmten Menschen geformt, was den Stoff mit der Tradition des
Doppelgängermotivs und mit dem biblischen Verbot, ein Ebenbild Gottes zu
schaffen, verknüpft.
Die Verbindung mit der Erschaffung aus den Buchstaben
läßt sich auf drei Berichte aus dem 13. Jahrhundert zurückverfolgen.
Diese Quellen beziehen sich ihrerseits auf das 4. Jahrhundert v. Chr.
und auf die beiden Personen Jeremiah und seinen Sohn Ben Sira. Diesen
ältesten Belegen zufolge wird der Golem durch Buchstabenkombinationen
belebt. Das hebräische Wort für Wahrheit tma wird emeth ausgesprochen
und besteht aus den Buchstaben aleph, mem und tav. Auf der Stirn des
selbst weder sprachbegabten noch vernünftigen oder fortpflanzungsfähigen
Golem steht der göttliche Name JHWH (Jehovah). Durch die
Buchstabenverbindung "JHWH elohim emeth" (Gott ist wahr) kann der
künstliche Mensch zum Leben erweckt werden. Nach Auslöschung des aleph
wird in diesem Satz "wahr" zu "tot" tm; aus emeth wird also meth. Die
beiden verbleibenden Buchstaben mem und tav verkünden nun:
"Gott ist tot". Der geringste Buchstabe, der am Anfang des hebräischen
Alphabets steht und somit nur den Zahlenwert 1 hat, differenziert
demnach Hoffnung von Verzweiflung und hilfreiches Wissen von Zerstörung.
Die 1492 aus Spanien vertriebenen jüdischen Sefardim
brachten die elitäre, mystische Geheimlehre der Kabbala, deren
antik-arabische Denktradition die im slavischen Kulturraum lebenden
aschkenasischen Traditionalisten zunächst scharf ablehnten, nach
Osteuropa. In dieser esoterisch-spekulativen Kabbala haben die
Buchstaben des Alphabets, besonders die des Gottesnamens, eine geheime
magische Macht, die der Eingeweihte hervorrufen kann. Diese Vorstellung
unterscheidet sich grundlegend von den Haupttendenzen der christlichen
Mystik und deren grundsätzlich negativer Deutung der Sprache. Dort
verhindern die Buchstaben immer den direkten Einblick in Gottes
Weisheit. In der jüdischen Kabbala jedoch wird die göttliche Ordnung der
Dinge und der Geschichte nicht in einem Medium wie der Schrift
repräsentiert oder symbolisiert. Die Sprache selbst ist unmittelbare
Offenbarung und Vollkommenheit. Der gesamte Kosmos wird als eine Textur
verstanden, die nicht aus dem Nichts hervorgeht, sondern vorhandene
Material- und Buchstabenkombinationen ständig neu verknüpft. Jeder
Schöpfungsvorgang ist demnach nichts anderes als eine sprachliche
Selbstentfaltung der jenseitigen Gottheit ('En Sof). Alles metaphysische
Wissen ist nicht "hinter" der Sprache, sondern "in" der Sprache zu
suchen. 221 im Sefer Jesira (Das Buch der Formbildung)
festgelegte Alphabetkombinationen mit Schöpfungskraft werden je mit den
Konsonanten des göttlichen Tetragramms JHWH verbunden, und auch diese
Konsonantengruppen werden wiederum der Reihe nach in allen möglichen
Vokalisierungen mit den fünf Hauptvokalen a, e, i, o und u
zusammengebracht. Die kabbalistische Praxis besteht also einerseits aus
einem magischen und andererseits aus einem meditationsartigen Rezitieren
nach strikten Regeln, was hebräisch "Zirufe Otijot" genannt wird. Die
Buchstaben sollen alle so schnell nacheinander deklamiert werden, daß
durch den Atemrhythmus Berauschung und Inspiration entsteht. Im 12. und
13. Jahrhundert ist demnach die Golemschöpfung ein Ritual, das zur
Ekstase führt und eine geistige Wiedergeburt in der Sprache symbolisiert
- noch ohne praktischen "Zweck" und ohne das Motiv des magischen
Knechtes oder Famulus.
Auch die Prager Legende vom Golem geht auf das
mystische Traktat Sefer Jezira über die Schöpferkraft durch
"Verwandlungen" der Buchstaben zurück, das wohl zwischen dem 3. und 6.
Jahrhundert n. Chr. verfaßt wurde und dessen Autor wahrscheinlich ein
jüdischer Neupythagoräer war, der pansophische Visionen von einem
harmonisch geordneten Universum hatte. Ein hebräischer Kommentar des
Eleasar von Worms greift diese Golemlegende im 12. Jahrhundert auf. Die
Zahlenmystik der Schöpfungsharmonie samt ihrem Äquivalent im hebräischen
Alphabet begründete die "Kabbala", die wörtlich übersetzt "Tradition"
bzw. "Empfangen" heißt. Während die 11 Vokale als männlich und
formgebend gelten, sind die Konsonanten als weiblicher Stoff, wörtlich
golem (slwg) bestimmt. Nach dem Muster der theosophischen Kabbala
ist alles Seiende als eine Symbolik der 10 göttlichen Namen und
Präsenzformen zu verstehen, die als Sefirot (Sphären, Intelligenzen)
bezeichnet werden und aus dem vollkommenen, göttlichen Einen als ein
triadig gestaltetes System von 10 körperlosen geistigen Kräften
hervorgehen. Eine Lektüre dieser kabbalistischen Textur, die hinter dem
Sichtbaren das jenseitige Geschehen in den zehn Dimensionen dieser
Sefirot erkennt, muß diese symbolischen Formen und Urzahlen als
verborgene Sinnschicht entziffern. Dem Paradigma der ekstatischen
Kabbala zufolge ist die Sprache bzw. ihre Kombinatorik der 22
hebräischen Konsonanten das metaphysische Muster aller Dinge. Das
entspricht dem semantischen Gehalt des griechischen Wortes stoicheia,
das sowohl Buchstaben als auch Elemente bezeichnet. Jeder Buchstabe
"herrscht" über ein Glied des Menschen oder einen Bezirk der äußeren
Welt (dem Buchstaben Aleph ist beispielsweise der Rumpf
zugeordnet, dem Mem der Bauch, dem Tav der Mund). Die
ekstatische Erschaffung eines Golem gilt dem Adepten der Kabbala als
Beweis für seine Meisterschaft im Geheimwissen um die Schöpfung. Das
jahrelange Studium des Jezira-Buches wurde wohl tatsächlich durch
ein mystisches Initiationsritual abgeschlossen. Für diejenigen Juden,
die mit Hilfe von Gottesnamen Wunder bewirken, entstand ab dem 11.
Jahrhundert die Bezeichnung "Ba'al Schem (Tov)", kurz "Bescht", was
übersetzt "Meister des (guten) Namens" heißt. Es gab also mehrere Ba'ale
Schem, denen die Herstellung eines Golems zugeschrieben wird.
Wie kam es nun dazu, daß heute in erster Linie die
Stadt Prag mit dem magischen Mythos um den Golem in Verbindung gebracht
wird? Die polnische Legende um den Rabbi Elija Ba'al Schem von Chelm,
der 1583 verstarb, wurde erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
auf den Rabbi Jehuda Löw ben Bezalel von Prag (1512-1609) übertragen.
Angeblich 1580 habe er ein belebtes Wesen geschaffen, das die jüdische
Gemeinde gegen Pogrome schützen sollte. Die fantastische Legende über
diesen "MaHaRaL", auf hebräisch "Moreinu ha-Rav Rabbi Liva" (Unser
Lehrer, der Rabbi Löw), wurde also erst mehr als 200 Jahre nach seinem
Tod um den Prager Golem bereichert, obwohl Löw selbst demonstrativ allen
Wunderglauben ablehnte und verurteilte. Der Rabbi hat also wohl niemals
zu seinen Lebzeiten einen Golem aus Lehm erschaffen.
Löw wurde vermutlich 1512 in Worms geboren und
siedelte wegen Judenverfolgungen mit seinen Eltern und den drei älteren
Brüdern nach Polen über. 1553 wurde er Oberrabbiner, Pädagoge,
Administrator und Rechtsexperte im mährischen Mikulov (Nikolsburg),
bevor er 1573 nach Prag ging. Dort lehrte dieser rationalistische
Ethiker und Widersacher praxisferner Gelehrsamkeit von 1573 bis 1582 an
der sog. "Klaus", einer von Mordechai Maisel gebauten und privat
finanzierten Talmudschule. Seit dem 13. Jahrhundert war diese Schule der
Prager Tosafisten, die an der Außen- und Innenseite des Talmudtextes
ihre Kommentare beidruckten, den Instituten in Worms, Regensburg und
Paris ebenbürtig. Die jüdische Gemeinde Prags wurde immer vom Adel und
dem König in deren Konflikten funktionalisiert und von der Auslöschung
bedroht. In dieser Situation mußten die Juden zahlreiche pragmatische
Kompromisse mit den Christen eingehen. So wurde Löw 1583 nicht zum
Oberrabiner Prags gewählt, weil er durch seine radikalkonservativen
Meinungsäußerungen und fundamentalistischen Ansichten das jüdische
Establishment verärgert hatte. Er ging 1584 in das polnische Poznan
(Posen) und lebte dort bis 1597. Erst danach übernahm er als
Achtzigjähriger das Prager Amt, das er fast bis zu seinem Tod am 22.
August 1609 ein knappes Jahrzehnt lang innehatte.
Laut der Chronik von David Gans wurde Löw 1592 zu
einer Konferenz mit Kaiser Rudolf II. geladen, um Rechtsfragen zu
klären. Er kam wohl kaum als Finanzberater, politischer Vermittler, Arzt
oder gar nur zur Unterhaltung, wie es die Schilderungen in Pascheles
Sippurim (Geschichten) der in Jiráseks Alten Böhmischen Sagen
suggerieren. Der kinderlose Kaiser, der sich mit Gelehrten wie Georg
Hufnagel, Jan Breughel, Tycho Brahe und Johannes Kepler umgab, war
wahrscheinlich am kabbalistischen Wissen des Rabbi interessiert. Dieser
wandte sich nämlich gegen neue wissenschaftliche Renaissanceideen und
verteidigte die kabbalistische Reinheit des Sohar - ein Buch der
jüdischen Mystik, das der Bibel und dem Talmud gleichgestellt war. Die
Berichte von magischen Beschwörungen vor dem Kaiser sind insofern sicher
phantasievolle Bestandteile der späteren Legendenbildung um Mystik und
Magie im Rudolfinischen Zeitalter. Auf christlicher Seite entsprechen
der Golemlegende ähnliche Mythen um Simon Magus, Albertus Magnus, den
hl. Thomas von Aquin und Paracelsus.
Als man 1725 den Grabstein von Löw und seiner Frau
Perl, die übrigens 104 Jahre alt wurde, instandsetzte, lebte das
Interesse an diesem ungewöhnlichen Lebenslauf mehr als 100 Jahre nach
seinem Tod wieder auf. Da Prag im 18. Jahrhundert zum Zentrum der
Kabbala geworden war, wurde nun das ganze Leben des Rabbi mythisiert.
Die erste gedruckte und somit belegbare Verbindung von Löw mit dem Golem
wird 1837 in Berthold Auerbachs Roman Spinoza hergestellt, obgleich es
möglicherweise schon lange vorher eine jiddische mündliche Tradition
gab. 1841 gibt der Journalist Franz Klutschak diese Version ebenfalls
auf deutsch in der Zeitschrift Panorama des Universums wieder.
Nach der Chelmer Sagenfassung, aus der diese zweite, nun Prager
Überlieferungstradition erwuchs, legt Rabbi Löw dem belebten Wesen aus
Lehm täglich ein beruhigendes Amulett in den Mund. Als er dies einmal
vergißt, wird der Golem wild und beginnt, die Synagoge zu zerstören. Löw
muß den Psalm abbrechen, um den rituellen Beginn des Sabbat
hinauszuzögern, und legt dann das Amulett in den Mund des Wesens. Neue
Motive sind also das Außer-Kontrolle-Geraten des Golem und die
Wiederholbarkeit von Belebung und Entleibung. Dem Volksglauben zufolge
wird übrigens deshalb in der Altneusynagoge der Psalm ein zweites Mal
wiederholt. Im Gegensatz zu dieser Ruhigstellung legt Löw in späteren
Versionen den "Shem ha-Mepho-rasch", also Gottes Namen, gerade zur
Belebung in den Mund des Golem und entfernt ihn jeden Sabbat wieder.
Die jüdische Bevölkerung war auf ihrer Wanderschaft
durch die meist feindliche Umgebung für alle Varianten dieser nun weit
verbreiteten, okkulten Wunderlegende sehr empfänglich. Der zweite
gedruckte Beleg findet sich somit schon kurz darauf in den Sippurim
(Geschichten), einer Sammlung von Erzählungen um das Ghetto, die der
Prager Verleger Wolf Pascheles 1846 ebenfalls auf deutsch und nicht auf
hebräisch herausgab. Die Verfasser, die am Beginn der modernen Tradition
deutschschreibender jüdischer Autoren stehen, begeisterten sich
allerdings bereits für die von Moses Mendelssohn in Berlin begründete
jüdische Aufklärung, die Haskala, und erwähnen die Golemlegende
deshalb nur noch kurz.
1909 veröffentlichte Judah (Jüdel) Rosenberg anonym
in Warschau das 25 Kapitel umfassende Buch Niflaot Maharal im
ha-Golem (Der Golem oder Das wundersame Wirken des Rabbi Löw).
Rosenberg behauptete, in der Bibliothek von Mainz ein altes Manuskript
aus dem Jahre 1583 von Löws Schwiegersohn, Rabbi Isaak Kohen, gefunden
zu haben, in dem die "wahre Geschichte" um den Rabbi Löw verzeichnet
sei. Im Rahmen dieser Mythologisierung tritt auch der Jesuitenpriester
und antisemitische Magier Thaddäus als Löws Erzfeind und Konkurrent auf,
der auf kriminelle Art mehrere Ritualmorde an Christen zu inszenieren
versucht. In diesem vermeintlichen hebräischen Volksbuch wird der Golem
erstmals positiv als Retter des jüdischen Volks dargestellt, wobei die
unheimliche Zerstörungskraft aus der Chelmer Traditionslinie unerwähnt
bleibt. Diese Volkssage, die eine literarische Fälschung ist, wurde
durch Chajim Blochs Übersetzung aus dem Hebräischen Der Prager Golem.
Von seiner "Geburt" bis zu seinem "Tod" (1919) breit rezipiert.
Oscar Wiener tradierte diesen Mythos in seinen Böhmischen Sagen
(1919).
Durch seine Fiktionalisierung der historischen
Überlieferung hat Judah Rosenberg für das 20. Jahrhundert einen neuen
Volkshelden geschaffen. Die Belebung eines toten Körpers hatte ja Leser
von Science fiction und Monster-Literatur schon immer fasziniert. Chajim
Bloch überträgt 1920 in seinem Buch Israel der Gotteskämpfer. Der
Baalschem von Chelm und sein Golem. Ein ostjüdisches Legendenbuch
den Mythos von Prag nach Polen zurück und bekräftigt erneut den Anspruch
der Legende auf historische Wahrheit. Er baut den Mythos sogar noch
dadurch aus, daß er den Golem als eine sprechfähige und mittels Amulett
unsichtbare Gabe Gottes für die verfolgte jüdische Gemeinde
interpretiert. Nach wie vor ist aber auch hier der Golem ein
gefühlloser, machtvoller Roboter, der keinen freien Willen und keine
Sexualität erkennen läßt.
Während Rosenberg und Bloch Sexualität und Gefühle zu
thematisieren vermeiden, wird der Golem bei Gustav Meyrink, Halper
Leivick und Abraham Rothberg vermenschlicht und als "Doppelgänger"
pyschologisiert. Leivicks Dramatisches Poem in 8 Szenen wurde
1921 publiziert und erstmals 1925 in Moskau hebräisch aufgeführt. Die
Golemschöpfung wird wie im gefälschten Volksbuch durch die
judenfeindlichen Anschläge des christlichen Jesuitenpriesters Thaddäus
motiviert. Weil der Golem die Jüdin Devorale begehrt und dadurch seinem
alter ego Löw klarmacht, daß sein Geschöpf nicht mehr seinen Befehlen
folgt, nimmt der Rabbi - mit einem Gebet und ohne alle kabbalistischen
Mysterien - seiner Schöpfung wieder das Leben. Er sieht im
vermeintlichen Retter somit am Ende einen "falschen Messias".
Nach Meyrinks Interpretation Der Golem von
1915 tritt das Wesen alle 33 Jahre - jeweils die Lebensspanne Jesu - als
eine Art Ahasver am Fenster eines unzugänglichen Zimmers im Prager
Ghetto auf. Meyrink selbst, der kein Jude war, lebte seit 1884 in Prag
und leitete dort eine Bank. Seine Existenz als Bankdirektor war 1902
allerdings völlig ruiniert. Kaum 1/5 seines in dieser turbulenten
Lebenssituation entstandenen Buches handelt von der Figur des Golem.
Rabbi Löw wird überhaupt nicht erwähnt. Meyrink entlarvt sich übrigens
als in der christlichen Welt sozialisierter Autor, wenn er den Bericht
von einem Golem aus vergangenen Tagen einbaut, der beim Läuten der
Kirchenglocken helfen mußte. Glocken gibt es bekanntlich in keiner
Synagoge. Die Reise der Hauptperson Athanasius Pernath ins eigene Ich
endet mit der Inthronisation eines Hermaphroditen, der eine neue Einheit
symbolisiert. Im Anklang an den altägyptischen Osiris will Pernath über
den Golem-Doppelgänger, den er erstmals im Spiegel des Café Chaos
wahrnimmt und dem er den kabbalistischen Namen Habal Garmin gibt, seine
verlorene Vergangenheit zurückholen, seine antagonistischen Ichs
versöhnen und einen höheren Bewußtseinsstatus erreichen. Schon der Name
Pernath deutet auf Pereles, den ersten Chronisten des Rabbi Löw, und auf
Pascheles, den Herausgeber der Prager Legendensammlung Sippurim.
Zudem wird Pernath zum Doppelgänger des Lustmörders Laponder und des
Studenten Charousek. Beide sind - ähnlich wie der Golem -
Projektionsflächen seines Unbewußten.
Auch Karel Capek hat sich in seinem 1921
uraufgeführten "utopistischen Kollektivdrama" RUR an der Legende
vom Prager Golem orientiert. Durch dieses Schauspiel, dessen Titel eine
Abkürzung des Firmennamens Rossum's Universal Robots ist,
verbreitete sich das tschechische Wort für körperliche Fronarbeit,
nämlich robota, weltweit in dem Wort Roboter. Abraham
Rothbergs Roman The Sword of the Golem, der 1970 in den USA
erschien, stellt im Anklang an Capek die psychologische wie moralische
Frage nach Gewaltbereitschaft und Pazifismus in einer Situation der
Bedrohung. Rabbi Löw befürwortet in diesem Text als Talmud-Gelehrter die
Seite der Pazifisten und erschafft dennoch den Golem, der auf Befehl
töten kann, als Retter der jüdischen Gemeinde. Der aus dem Schlamm der
Moldau geformte Golem namens Joseph, der selbst gar nicht erschaffen
werden will, wird hier zum Monster, weil er die Liebe nicht erhält, nach
der er sich sehnt. Er ist also nicht nur tellurische Macht oder
dienender Roboter, sondern verliebt sich als "Mensch" in das
Dienstmädchen Kaethe Hoch. Dank seiner Humanisierung bekommt er
zunehmend Angst vor dem eigenen Zerstörtwerden und verweigert, nachdem
er sich seiner Position als gesellschaftlicher Außenseiter bewußt wird,
die gehorsame Ausführung der Befehle.
Konträr zu dieser Vermenschlichung steht der Golem
als Knecht in der Tradition der maschinellen Automaten. Dieses Motiv von
der Maschine, die besser als ihr menschlicher Schöpfer ist, greifen
Stanislaw Lem in seinem Science-Fiction-Roman Golem XIV (1981)
und Norbert Wiener in God and Golem, Inc. A Comment on Certain Points
where Cybernetics Impinges on Religion (1964) auf. Nicht zuletzt
hielt auch der Kabbala-Forscher Gershom Scholem eine Rede bei der
Einweihung des Computers Golem No. 1 (Golem Aleph) am Weizmann
Institut im amerikanischen Rehovot 1965.
Besonders durch das neue Medium Film hat sich die
Legende vom Golem um die ganze Welt verbreitet. Die Filme von Paul
Wegener (Der Golem, 1914; Der Golem und die Tänzerin,
1917; Der Golem: Wie er in die Welt kam, 1920), von Julien
Duvivier (Le Golem, 1936) und von Martin Fric (Císaruv pekar a
pekaruv císar, 1951) sowie die Gedichte von Jorge Luis Borges (El
Golem, 1958), John Hollander (Letter to Borges, 1969) und
Paul Celan (Einem, der vor der Tür stand, 1964) haben die Prager
Legende international bekannt gemacht. Dagegen finden die brillanten
Schriften des vermeintlichen Golemschöpfers, nämlich des Rabbi Löw
selbst, heute kaum mehr Verbreitung. Besonders der populäre letzte Film
von Wegener hat über das neue Medium die Sage nachhaltig verändert, weil
der Golem dort ohne Kabbala durch astrologische wie auch
chemisch-alchemistische Kenntnisse entsteht. Religiöses Ritual ebenso
wie göttliche Inspiration werden ganz durch eine faustische Magie um den
Dämon Astaroth ersetzt. Astôret ist der Name einer
phönizisch-kanaanäischen Göttin, die als höllischer Geist in den
Volksglauben überging und somit eine ganz andere Traditionslinie
eröffnet. Der Golem, dessen Leben am Ende ein kleines Mädchen in
kindlicher Unschuld beendet, steht expressionistisch für den Willen zur
Macht. Der Film vermittelt die Aussage, daß es keinen reinen
Funktionalismus ohne zwischenmenschliche Treue, Liebe und Leidenschaft
gibt. Dies ist eine Uminterpretation, die den jüdischen Golem ohne Zutun
eines Rabbis christlich erlöst, und somit in die alte jüdische Sage eine
antisemitisch deutbare Komponente mischt.
Im Gegensatz dazu interessiert Borges, wie das
neugeborene Wesen langsam zum Gefangenen der Sprache wird. Die Stummheit
des Golem beschämt den Rabbi Löw; so ist auch Gott mit dem Menschen
unzufrieden, der keine vollkommen paradiesische Sprach- und
Schöpfertätigkeit entwickelte. Hollander hingegen thematisiert als
Antwort auf Borges die alten Prager Geschichten, die ihm seine Eltern
nachts im amerikanischen Exil zur Beruhigung erzählt hatten. Das
Einmalige der mythischen Golemvorstellung als Erinnerung und
Familiensaga gewährt in der realen profanen Gegenwart einen Halt. Bei
Celan wiederum soll der Rabbi Löw nach der Offenbarung des geheimen,
höheren Wortes die vorhandene sprachliche Weltordnung zerstören und
einen neuen "heilbringenden Spruch" erschaffen. Auch wenn das Motiv vom
Golem nicht immer explizit erwähnt wird, beeinflußt es dennoch bis heute
Literatur und Film nachhaltig. Letztlich ist auch Franz Kafkas Odradek
aus der Erzählung Die Sorge des Hausvaters (1917) ein modernes,
fiktionales, golemartiges Wesen, das aus Buchstabenkombinationen
entsteht, immer mächtiger wird, einzig in den Buchstaben fortleben kann
und auch nur durch sie zu zerstören wäre. Und auch in dem 1994 von Jan
Švankmajer gedrehten Film Lekce Faust (Eine Unterrichtsstunde zu
Faust) ist das Geschöpf des Gelehrten beispielsweise weit mehr ein
lehmgeformter Golem als der Goethesche Homunkulus.
Die unheimlichen Elemente der Legende, die den Golem
bis heute weltweit in Erzählungen weiterleben lassen, wurden oft als
unglaubwürdige Phantasien einer überholten Zeit abgeschwächt. In Egon
Erwin Kischs ironisch stilisierter Reportage Den Golem
wiederzuerwecken (1934) vermischen sich sagenhafte und historische
Elemente von Prag, wobei echte und fiktive Quellen kaum mehr eine
Unterscheidung von Mythos und Wirklichkeit erlauben. Ein galizischer
okkultistischer Jude sucht bei Kisch im Dachboden der Altneusynagoge (jiidisch
"Altneuschul"; hebräisch "al-tnaj", d.h. "einstweilig", weil sie
angeblich aus den Steinen des vernichteten Tempels zu Jerusalem gebaut
wurde, wohin sie nach dem Erscheinen des Messias wieder zurückkehren
soll) vergeblich nach den Lehmresten des Golem. Weitere Nachforschungen
führen durch eine auf seinem Stadtplan von Prag vorgezeichnete Spur bis
auf den Galgenberg, wo der jüngsten Sage nach der tote Lehm begraben
wurde. Die Erzählung mündet in die Erkenntnis, daß die ständig
wiederholten Wiedererweckungsversuche des Golem am Ende blutleere und
verknechtete Fabrikmenschen in Prag hervorgebracht haben und somit schon
aus diesem Grund dieses Wesen in Zukunft am besten für immer begraben
bleiben sollte. Das letzte Wort über den Golem und seine Beziehung zu
der jüdischen Gemeinde in Prag ist aber sicher auch heute noch nicht
gesprochen.
Literatur
Glut, Donald: The Frankenstein Legend. A Tribute to
Mary Shelley and Boris Karloff. 1973.
Goldsmith, Arnold L.: The Golem Remembered, 1909-1980. Variations of a
Jewish Legend. Detroit 1981.
Grimm Jacob: Kleine Schriften. 8 Bde., Berlin 1864-1890, IV, S. 22
(leicht abweichende Fassung).
Grimm, Jacob: Entstehung der Verlagspoesie. In: Zeitschrift für
Einsiedler. Hg. V. Achim von Arnim in Gemeinschaft mit Clemens Brentano.
Heidelberg 1808 (Nachdruck Stuttgart 1962, Nr. 7, April, S. 56).
Idel, Moshe: Golem. Jewish Magical and Mystical Traditions on the
Artificial Anthropoid. Albany 1990.
Mayer, Sigrid: Golem. Die literarische Rezeption eines Stoffes. Bern
1975.
Neher, André: Faust et le Maharal de Prague. Le mythe et le réel. Paris
1987.
Rosenfeld, Beate: Die Golemsage und ihre Verwertung in der deutschen
Literatur. Breslau 1934.
Scholem, Gershom: Die Vorstellungen vom Golem in ihren tellurischen und
magischen Beziehungen. In: ders.: Zur Kabbala und ihrer Symbolik.
Frankfurt/ M. 1873, 209-260.
Schudt, Johann Jacob: Jüdische Merckwürdigkeiten, 3 Bde. und eine "continuatio".
Frankfurt/ M. 1714-1717. Nachdruck Berlin 1922, II, Buch VI/ 31, S.
206f.
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